Figur & Grund

Gestaltpsychologie - Figur & Grund
Figur-Grund-Wechsel: Die bekannte Darstellung „Junge Frau/Alte Frau“

Gestalten vor meiner Tür – Das Spiel mit Figur und Grund

Ein Prinzip, das die Gestaltung und Konzeption unserer persönlichen Wirklichkeit beeinflusst, beschreibt die Gestaltpsychologie als „Figur-Grund-Wechsel“: „Figur“ bezeichnet das, was in unserer Aufmerksamkeit in den Vordergrund tritt. Alles übrige bildet so lange den Hintergrund, bis sich unser Fokus etwas anderem zuwendet und dies nun aus dem Hintergrund hervortritt und zur Figur wird. Was jeweils ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, hängt von vielen Faktoren ab. Vor allem ist es das jeweilige Bedürfnis, das die Art und Weise bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen.

Mit hungrigem Magen gehe ich anders über einen Gemüsemarkt, als wenn ich mich dort mit meiner Liebsten verabredet habe. Das im Vordergrund stehende Bedürfnis (Figur) bestimmt den Fokus der Wahrnehmung und ordnet die Informationen derart zu einem Gesamtbild der Wirklichkeit, dass es zu einer Befriedigung des Bedürfnisses kommen kann. Das Übrige tritt bedeutungslos in den Hintergrund (Grund).

Die Entdeckung von Perls und seinen Kollegen war das Phänomen der „unabgeschlossenen Situation“ oder „offenen Gestalt“ (unfinished business). So bezeichneten sie die Dynamik, die entsteht, wenn emotionalen bzw. psychischen Bedürfnissen nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Das Übergehen von Gefühlen, bewegenden Erlebnissen oder dramatischen Situationen führt dazu, dass Lebenssituationen unabgeschlossen im Raum des Unbewussten abgelegt werden und sich auf das gegenwärtige Erleben der Realität auswirken. Wenn auch vergangen, drängen die alten Geschichten in unserem Leben nach Beendigung: Die nicht geweinten Tränen, die verschluckte Wut, die unausgedrückte Liebe stehen gleichsam Schlange vor unserer Tür und nutzen jede Gelegenheit, anzuklopfen oder gar mit der Tür ins Haus zu fallen.

Mit anderen Worten: Diese Situationen unserer Vergangenheit bestimmen unser Leben und rufen sich immer wieder in Erinnerung; solange, bis sie abgeschlossen sind. So wird z. B. die nicht gelebte Trauer über den Verlust eines Menschen oder die Wut über eine Verletzung solange an uns nagen, bis wir sie gefühlt und abgeschlossen haben.

Gestaltpsychologie

Die Gestaltpsychologie entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Erkenntnis, die für viele von uns heute selbstverständlich zum Verständnis von Wirklichkeit gehört, eröffnete damals einen völlig Blick, auf das, was als Realität empfunden wurde: Wahrnehmung ist keine 1:1-Abbildung der Welt, so wie eine Fotokamera einen Schnappschuss des Geschehens abbildet, sondern Wahrnehmung ist ein Prozess, an dessen Ergebnis der Wahrnehmende ebenso gestaltend Anteil hat wie das Wahrgenommene sowie die Bedingungen unter denen Wahrnehmung stattfindet. Anders ausgedrückt: Die Brille, durch die Mensch die Welt betrachtet bestimmt, welche Wirklichkeit vor seinem inneren Auge erscheint. Das bedeutet, dass sich im Prozess der Verarbeitung von Sinneseindrücken ein Abbild der Wirklichkeit konstruiert. Dieses Abbild ist, wie Gregory Bateson es nennt, eine Landkarte der Welt, nicht aber Landschaft.

Diese neue Sicht auf Wahrnehmung und Wirklichkeit war Teil eines Paradigmenwechsels in der Wissenschaft. Die Beobachtung der Welt und die Erforschung ihrer Phänomene liefert weniger objektive Fakten, sondern mehr subjektive Ansichten, die sich rasch wieder ändern können, je nachdem aus welcher Perspektive der/die Beobachter*in schaut. Der/die Beobachter*in verändert durch die Beobachtung und die eigenen bewussten und unbewussten Voreinstellungen das Ergebnis.

Der Begriff „Gestalt“, der diesen Zweig der Psychologie und später auch der neuen Therapieform den Namen gab, bezeichnet ein sinnvolles Ganzes. Aus Sinnesinformationen werden nach den sog. Gestaltgesetzen Ganzheiten gebildet, die sich im Wahrnehmungsprozess aus dem Hintergrund in der Vordergrund der bewussten Wahrnehmung bewegen.

Die Gestaltgesetze, die von der Gestaltpsychologie formuliert wurden, werden heute von Werbefachleuten und Mediendesigner verwendet, um Sinneseindrücke bewusst zu steuern. 

Perls und Kolleg*innen erkannten, dass dieselben Gesetzmäßigkeiten in der psychischen Dynamik und emotionalen Prozessen am Werk sind. Gestalttherapie macht die unbewussten Mechanismen bewusst. Das führt dazu, dass die Automatismen verstanden werden, die zugrundeliegenden Zusammenhänge integriert werden können und daraus mehr persönliche Freiheit erwachsen kann.

Gestaltpsychologie bei Wikipedia 


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